TREUTLER - Genealogie


4. sonstige Texte zu den TREUTLER


a) Flucht und Vertreibung - ein Erlebnisbericht

aufgezeichnet am 12.08.1996 nach einer Vorlage von
Gerhard Treutler, geb. 1932 in Gnadenfrei, Kreis Reichenbach, Schlesien
 

Wie erlebte ein 13-jähriger die Vertreibung seiner Familie aus Schlesien ?

"Als wir nach den Weihnachtsferien 1944/45 wieder in die Schule kamen, standen alle Lehrer im unteren Flur. Sie hatte sehr ernste Gesichter und sagten, daß wir gar nicht erst in die Klassen gehen sollen, weil noch am gleichen Abend die ersten Flüchtlingstransporte losgehen sollten.

Als ich mit meinen zwei weiteren Geschwistern wieder zu Hause ankam, war bereits die Nachricht überbracht worden. Wir sollten am Nachmittag bis 15 Uhr am Güterbahnhof sein. Jede Person durfte nicht mehr Gepäck mitnehmen, als sie tragen konnte, also keine Wagen oder große Gepäckstücke. Es war ein bitterkalter Januartag. Im Schneetreiben gingen wir zum Bahnhof, der nur unweit unseres Hauses lag. Mein Großvater hat dort viele Jahre als Rangiermeister gearbeitet und wir konnten ihn von unserem Hause aus sehen. Der Bahnhof war von vielen Menschen gefüllt, die auf den Zug Richtung Westen warteten.

Es wurde bereits dunkel, als ein Zug mit geschlossenen Güterwaggons auf das Verladegleis geschoben wurde. Die Wagen standen noch nicht still, als der Ansturm der Menschen auf die wenigen Plätze losbrach. Es gab ein ungeheures Gedränge und Geschrei, weil keiner wußte wann und ob es noch einen weiteren Zug geben würde. Das Wageninnere war völlig leer - kein Stroh, keine Decken oder gar Bänke. Nicht einmal eine Heizmöglichkeit war, trotz der bitteren Kälte vorhanden. Ich glaube so gegen 22 Uhr abends setzte sich der Zug in Bewegung - wohin, daß wußte niemand.

Der Zug rollte die ganze Nacht hindurch - mal schneller mal langsamer. Es wurde kaum gesprochen - nur in der einen oder anderen Ecke wurden leise Worte gewechselt. Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre von Angst und Ungewissheit. Was würde der morgige, was die nächsten Tage bringen. Es war dunkel - keiner durfte Licht machen, damit wir nicht von feindlichen Flugzeugen ausgemacht werden konnten. Wegen der Kälte mußten die Waggons geschlossen bleiben, um die Wärme der dichtgedrängten Körper im Wagen zu halten. Am nächsten morgen kam der Zug in der Kreisstadt Glatz zum stehen. Eigentlich hatten wir in dieser ersten Nacht nur 50 Kilometer zurückgelegt, aber der Weg in die Ungewissheit hatte begonnen, die Heimat und die Kindheit blieben zurück.

Nach einigen Tagen des Wartens in der von Flüchtlingen und Soldaten überfüllten Stadt ging es weiter. Der Zug fuhr immer in Etappen von einem Ort zum anderen - oft große Umwege und meistens in der Nacht, um nicht unter feindlichen Beschuß zu kommen. In unvergeßlicher Erinnerung blieben mir zwei Bombenangriffe. So wollte es der Zufall, daß unser Zug in der Nacht des 13. Februar 1945 außerhalb des Bahnhofes von Dresden-Neustadt lag. Bei jedem Halt mußten wir die Züge verlassen und suchten Schutz in Unterführungen. So war es auch in dieser Nacht in Dresden. Wir konnten uns gerade noch in eine schon völlig überfüllte Unterführung drän-gen als es losbrach - das Inferno von Dresden. Es sollte der furchtbarste anglo-amerikanische Bombenangriff des ganzen Krieges werden und es kann nur als Glück bezeichnet werden, daß wir nicht zu den Opfern zählten.

Nach einer weiteren langen Reise hielt der Zug in Halberstadt, wo sich eine ähnliche Katastrophe wiederholte. Auch hier wollte es der Zufall, daß wir just an dem Tage dort waren, wo die Stadt in Schutt und Asche fiel und man glücklich war, mit dem Leben davongekommen zu sein. Nach einem weiteren Halt in Braunschweig endete unsere Reise in Celle/Niedersachsen. Es war bereits der 2. oder 3. März 1945 als wir dort ankamen, nach fast 3 Monaten Flucht. Im April 1945 bäumte sich der Krieg hier ein letztes mal auf, als die Neustadt völlig zerstört wurde. Wir waren etwas außerhalb schon in einer Wohnung untergebracht, wohnten aber nicht weit vom Güter-bahnhof, der Hauptziel des Angriffes war. Dort standen ein Militär- und ein KZ-Zug. Es blieb nur völlige Zerstörung. Als wir aus dem, mit Sandsäcken gesicherten Keller kamen, gab es keine Tür und kein Fenster mehr in unserem Haus. Es war ein Glück, daß wir von einem Treffer verschont blieben, denn links und rechts fehlte so manches Haus völlig.

Kurz nach dem Bombenangriff, so um den 20. April 1945 kamen dann die englischen Truppen - der Krieg war für uns vorbei."



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